Souad – Bei lebendigem Leib

Die ersten Sätze: Ich bin ein Mädchen, und Mädchen müssen immer schnell gehen und auf den Boden schauen, den Blick auf den Boden heften und sich beeilen. Mädchen dürfen nicht aufsehen oder den Blick schweifen lassen, denn wenn ein Mädchen einem Mann in die Augen schaut, behandelt sie das ganze Dorf als charmuta. Sieht eine verheiratete Nachbarin, eine alte Frau oder sonst jemand das Mädchen allein auf der Straße, ohne ihre Mutter oder ihre ältere Schwester, ohne Schaf, Heubündel oder einen Korb voller Feigen, gilt sie ebenfalls als charmuta. Ein Mädchen muss heiraten, damit es den Blick heben, den Dorfladen betreten, sich die Haare entfernen und Schmuck tragen darf.

Die letzten Worte: …, damit es nicht vergilbt. Danke.

Inhalt: Das junge Mädchen Souad lebt in einem kleinen Dorf irgendwo im Westjordanland. Als Frau geboren, gilt ihr Leben weniger als das eines Tieres: Schläge, Misshandlungen und Demütigung liegen an der Tagesordnung, sämtliche Arbeiten im Haus werden von Souad, ihrer Mutter und ihren Schwestern verrichtet, während der Vater mit Rohrstock und Peitsche für Zucht und Ordnung sorgt. Sogar umbringen darf er sie – wenn eine Frau stirbt, ist das keine große Schande. Weil Souad sich nach Liebe sehnt und sie in heimlichen Treffen mit einem Nachbarsjungen findet, beschmutzt sie die Ehre der Familie aufs Höchste und muss durch die Zimmerwand mit anhören, wie ihr eigenes Todesurteil gefällt wird.

Wenig später steht sie in Flammen, überlebt aber den schrecklichen versuchten Ehrenmord und gelangt im Krankenhaus in die Hände der Französin Jaqueline, die für Terre des Hommes arbeitet. Jaqueline sorgt dafür, dass sich Souad in Europa gemeinsam mit ihrem Sohn ein neues Leben aufbauen kann – jedoch für immer entstellt und vernarbt. Ihre neue Existenz ist ein langwieriger und qualvoller Prozess und nicht selten steht Souad kurz davor, aufzugeben.

Reingelesen:

  • Damals habe ich nicht begriffen, dass dummes Geschwätz oder Mutmaßungen von Nachbarn, ja sogar irgendwelche Lügen aus jeder Frau eine charmuta machen und sie zum Tode verurteilen konnten – um so die Ehre der anderen zu retten. (S.68 )
  • Ich weiß nicht, was sie mit Hanan gemacht haben. Auf jeden Fall verschwand sie aus dem Haus. Und ich habe sie vergessen. Ich verstehe nicht recht, warum. Auf die Angst folgte damals vermutlich wieder mein normales Leben mit Sitten und Gebräuchen, seinen Gesetzen und allem, was uns dazu zwang, diese Dinge „normal“ zu finden. Zu Verbrechen oder Grauen werden sie erst anderswo, im Westen, in anderen Ländern mit anderen Gesetzen. (S.43)
  • Und mein Vater schlug mich mehr denn je. Er gab mir Fußtritte und Stockhiebe auf den Rücken. Er packte mich an den Haaren, zwang mich in die Knie und drückte mein Gesicht in die Asche, die zum Glück nur noch warm war. […] Zur Strafe musste ich die Asche essen. (S.61)
  • Sie verzieht ihr Gesicht, sie beißt sich auf die Lippen und weint noch heftiger. „Hör mir zu, meine Tochter, ich möchte, dass du stirbst, es ist besser, wenn du stirbst. Dein Bruder ist noch so jung, wenn du nicht stirbst, bekommt er Schwierigkeiten.“ (S.146)
  • Für unser westliches Verständnis ist die Vorstellung unglaublich, dass Eltern oder Brüder ihre Tochter oder Schwester umbringen, nur weil sie sich verliebt hat – und das heutzutage. (S.156)

Ausgelesen: Dass im 21. Jahrhundert an einigen Orten der Welt noch immer unvorstellbare Zustände wie zur Zeit des Mittelalters herrschen, ist schwer nachvollziehbar. Souads Geschichte, die sich wirklich so ereignet hat, ist die erste Möglichkeit, die Thematik des Ehrenmordes, der noch in vielen Ländern üblich ist und dem jährlich tausende Menschen zum Opfer fallen, der Welt näher zu bringen. Die Täter gelten dabei noch oft als Helden und werden für ihre Taten gar nicht oder nur gering bestraft. Eindrucksvoll, unfassbar und sehr beeindruckend schildert hier eine Frau ihre Lebensgeschichte, die dem Tod nur um Haaresbreite entkommen konnte und sich mit dem Kulturschock in der westlichen Welt über einen langwierigen Prozess auseinandersetzen musste. Dass sich Frauen schminken, Männern in die Augen schauen oder laut reden dürfen, ist da nur eine von vielen unfassbaren Tatsachen, die Souad nicht verstehen kann. Und auch Jaqueline meldet sich zu Wort und berichtet von ihrer Arbeit vor Ort. Eine sehr ergreifende Geschichte, die man gelesen haben sollte.

Autorin: Souad (*ca. 1950) lebt aus Angst vor einer eventuellen Rache ihrer Angehörigen mit ihrer Familie unter anderem Namen irgendwo in Europa. Lange hat sie überlegt, ihre Geschichte in einem Buch zu veröffentlichen und sich endlich überwunden, um dem in vielen Ländern noch praktizierten Ehrenmord eines von vielen schrecklichen Gesichtern zu geben. Jaqueline, die für Terre des Hommes und die „Fondation Surgir“ arbeitet, füllt dabei die Lücken auf, an die sich Souad nicht mehr erinnern kann und berichtet von ihren Aufgaben als Mitarbeiterin dieser Organisation.

Erhältlich im blanvalet-Verlag, 286 Seiten, ca. 8,50,- €

~ von reader - 6. April 2008.

6 Antworten to “Souad – Bei lebendigem Leib”

  1. das buch ist sehr interessant ^^

  2. Ich finde dieses Buch sehr gut, die Geschichte ist sehr brutal, und hat mich persönlich berührt.

  3. Ein sehr eindrückliches Buch!
    Jacqueline ist aber keine Franzosins, sie kommt aus dem französisch sprechenden Teil der Schweiz…

  4. Dieses Buch hat mich sehr gepackt und bewegt, auch die Sprache, holzschnittartig. Erschreckend die Macht der Gesellschaft und ihrer Wertvorstellungen, in diesem Fall die Ehre der Familie. Und die Brutalität der Menschen, Männer und Frauen. Woher sie kommt? Sind sie auch Opfer brutaler Umstände? Wunderbar der Mut und die Überlebenskraft einzelner. Ein wunderbares Buch, so schrecklich die Geschehnisse.

  5. das buch ist seehr schön hab viele bücher gelesen jedoch das einzige was in meiner erinnerung wirklich hängen blieb da ich sehr viel solcher betroffenen personen kenne und libanesin bin zwar ist es nicht sehr aktuell bei uns aber ich weis das es immer noch frauen gibt die genau so leiden und es leider nicht überlebten „!

  6. kostet das Buch wirklich 149,00 €

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